
Die Frage, inwiefern „Rammstein“ etwas mit der Grundausrichtung dieses Blogs zu tun hat, ist berechtigt und alles andere als leicht erklärbar, dennoch möchte ich die Gelegenheit nutzen und zumindest den Versuch einer Erklärung wagen – trotz oder auch gerade wegen der derzeit intensiv geführten Diskussion darüber, ob der „Front Man“ von Rammstein (Till Lindemann) sich bestimmter Verfehlungen schuldig gemacht hat oder nicht. Um das vorweg zu nehmen: Ich habe zahlreiche Konzerte von Rammstein besucht. Ich könnte sogar eine eigene Kategorie in mein Blog einbauen, die sich nur mit den jeweiligen Veranstaltungsorten befasst, wo Rammstein einst aufgetreten ist, aber ganz ehrlich und unverblümt ausgedrückt geben Stadien und grosse freie Flächen mit nur sehr wenig Ausnahmen selbst für meine Begriffswelt einfach zu wenig Material her, um darüber halbwegs interessante Beiträge schreiben zu können. Formal gesehen aber war für mich jede Anfahrt zu einem jener Veranstaltungsorte auch immer eine kleine Reise – aber nie eine Reise zu einem Ort auf einer Landkarte allein, es war für mich persönlich immer weitaus mehr. Woher kommt das?
Vor sehr, sehr vielen Jahren stolperte ich durch blanken Zufall über die Musik von Rammstein und vom ersten Moment an regte sich in meinem Kopf etwas, was ich damals noch nicht so in Worte fassen konnte, wie ich das jetzt und hier kann. Menschen, die mir nicht einmal ansatzweise bekannt waren, fassten etwas in Worte, gaben etwas einen musikalisch-lyrischen Ausdruck, was ich seinerzeit noch nicht eigenständig formulieren konnte, mir aber bereits „wohl bekannt“ erschien. Zugegeben: Die rein musikalische Form des Ausdrucks nahm mich von Anfang an in ihren Bann, was das anbelangt gebe ich unumwunden zu, dass ich – rein tonal-musikalisch gesehen – meine Neandertal-Wurzeln nicht nur nicht unterdrückt, sondern mit dem ersten Erscheinen von Rammstein in meiner Kopfwelt regelrecht gehegt und gepflegt habe. Was ihre Musik-Videos und Live-Bühnentechnik anbelangt, so waren diese meist genau so gewaltig (und gewalttätig…), wie ihre Musik, als auch die Texte zu jener Musik. Als stark visuell orientierter Mensch der ich nun einmal bin, verwundert es Sie daher sicherlich auch nicht, dass mich auch diese Elemente immer wieder angesprochen haben, mal mehr, mal weniger. Natürlich freute ich mich darauf, wie wohl eine neue Bühnen-Show oder das Video zu einem neuen Titel aussehen würde! Rammstein hat nie an optischen Eindrücken gespart – nur waren die nicht immer „angenehm“ oder „schön“, so manches Mal alles andere als „leicht verdaubar“, aber auch hier oft mir „vertraut“ und „bestens bekannt“.
Ich möchte hier an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, inwiefern mir bestimmte Textpassagen, die nun einmal vorwiegend von dem derzeit mit herben Vorwürfen belasteten Till Lindemann (nicht nur) in Musikform verfasst worden sind, als „bekannt“ und nicht selten sogar als „vertraut“ erscheinen, dass würde a) den Rahmen sprengen, b) nun wirklich vollkommen an der Grundausrichtung dieses Blogs vorbei gehen und vor allem c) sehr wahrscheinlich nur einmal mehr die Meinung gewisser „Artgenossen“ über mich und meine Person befeuern. Letzteres ist mir vollkommen egal – solange mir nicht haltlos vorgeworfen wird, ich würde das ebenso leben, wie es nun einmal Till Lindemann derzeit vorgeworfen wird. Darum geht es mir schlichtweg nicht. Rammstein hat mich so unendlich viele Male mit auf Reisen genommen, nur sehr selten waren es „schöne“ oder meinetwegen auch „angenehme“ Reisen. Es waren oft Reisen in die Abgründe der menschlichen Seele, Reisen an Orte, die mir teilweise bereits bekannt waren, noch bevor ich den ersten Ton eines Rammstein-Werkes jemals zu hören bekommen hatte, Reisen an Orte, die auf keiner Landkarte zu finden sind. Ich habe mir auch solche Orte angesehen, um so viele Eindrücke wie möglich zu erhalten, genau so, wie ich es von je her mit Orten gemacht habe, die auf irgendeiner Landkarte zu finden sind. Ich wollte mir nicht immer nur schöne oder angenehme Dinge ansehen, sondern auch die Aspekte eines Ortes, über die aus was für Gründen auch immer tendentiell eher geschwiegen wird – auch wenn sie das Gesamtbild komplettieren und nicht gerade selten relativieren würden.
Ein Beispiel? Gerne doch! Vor sehr, sehr vielen Jahren, als der Name „Rammstein“ noch gar nicht existierte, die Deutsche Teilung noch Realität war (…und Musik im Stil von Rammstein in der seinerzeit noch existierenden DDR sicherlich verboten gewesen wäre), weilte ich für ein paar Wochen im Norden Italiens, unter anderem in dem so schönen, angenehmen Vicenza. Ja, das Hotel war nicht gerade gehobenen Standards, aber schäbig war es nun auch nicht. Die Besonderheit jenes Hotels lag darin, dass die oberen Etagen jenes Gebäudes aus normalen Mietwohnungen bestanden. Zu vorgerückter Stunde beschloss ich, in meinem Zimmer Schutz vor der brütenden Hitze zu finden und erst am kühleren Abend weitere Entdeckungstouren zu unternehmen. Ich war gerade im Begriff, ein klein wenig einzunicken, als ein paar Etagen über mir ein sehr heftiger Streit zwischen einem Paar entbrannte, so richtig „herrlich“ emotional geführt, wie es wahrscheinlich nur echte Italiener können. Es ging kein Geschirr zu Bruch, aber das Streitgespräch war sehr Ton-gewaltig. Ich kann nachwievor kein Italienisch, aber dank seinerzeit noch guter Latein-Kenntnisse und einem phantasievollen Abstraktionsvermögen erfasste ich recht schnell, worum es ging: Eifersucht. Anstatt mir meine Ohren zuzustopfen, lauschte ich jenem Streit. Irgendwann wurde es sehr ruhig. Und dann begann dieses Päärchen ähnlich laut und intensiv das, wozu jeder Mensch ganz grundlegend biologisch programmiert ist: Fortpflanzung. Bei brutaler Sommerhitze! All das zerstörte die Schönheit von den schönen (!) Ecken Vicenzas nicht (auch wenn das Bett des Päärchens bei jenem Akt der Fortpflanzung derart heftig an eine Wand knallte, dass ich mir um die bauliche Sicherheit des Gebäudes ein klein wenig Sorgen machte). Aber es relativierte das sonst so angenehme und schöne Bild, weil einmal mehr der Mensch in Erscheinung trat. Ich verstand das in jenem Moment und schaute nun einmal nicht weg, hörte hin, konnte nachvollziehen, was zu jener Stunde in dem sonst so schönen Vicenza vor sich ging! Ein „normaler“ Mensch hätte sein Nickerchen wohl beendet und hätte sich entgegen jeder Vernunft wieder bei jener Bruthitze nur noch mehr schöne und angenehme Seiten Vicenzas angeschaut, bewusst verdrängt, wozu Menschen (unter anderem) in dem ansonsten so schönen und angenehmen Vicenza in der Lage sein können…
Dieses Prinzip, dieses Ereignis und meine Gedanken, die in Folge dazu entstanden, beschreiben recht gut, wie gewisse Texte von Rammstein von je her auf mich gewirkt haben und immer noch wirken. Ab und an kehre ich in meinem Kopf zurück in jenes Hotel, begleitet von Musik. Nicht nur Musik von Rammstein, wohlgemerkt. Für mich ist Musik hören und erleben, das bewusste erfassen von Textpassagen auch eine Form von Reisen. Mit teilweise sehr konkreten Bildern im Kopf. Ich werde mich in keinem Falle auf die Diskussion einlassen, wie ich als „Fan“ die derzeitigen Vorgänge beurteile, da denke ich mir meinen Teil, dazu sind bereits jetzt schon viel zu viele Moralapostel wie Ratten aus ihren Löchern hervor gestürmt (könnte nebenbei gut als Textpassage für einen neuen Rammstein-Titel herhalten…), um über etwas zu urteilen, was einerseits nun wahrhaftig nicht mehr neu ist oder bis anhin unbekannt war und andererseits meiner Meinung nach zumindest rudimentär im Kopf eines jeden Menschen vorhanden ist. Nur das er oder sie das niemals zugeben würde, weil „man“ das eben nicht macht. Wer auch immer jenes ominöse „man“ sein soll. Meiner Erfahrung nach haben die lautesten Moralapostel in der Regel am meisten zu verbergen. Die weisen unter ihnen schweigen. Wohl aus gutem Grunde. Ich bin nicht weise. Und ich reise und entdecke gern! Ich werde auch in Zukunft Rammstein hören, meine Tätowierung nicht entfernen lassen. Vielleicht werde ich in Zukunft nicht mehr auf eine Reise zu einem Konzert von Rammstein gehen. Nicht etwa, weil „man“ das nicht mehr machen sollte, oh nein! Ich bin nicht viel jünger, als die Mitglieder dieser Band und mir werden die Folgen des Besuches in Bern noch länger in den Knochen stecken, irgendwann einmal muss man diesbezüglich auch einmal vernünftig werden. Ob und was an den Vorwürfen dran ist, die derzeit im Raum stehen, ist mir nicht egal. Aber was auch immer bei alledem heraus kommt wird nichts daran ändern, dass ich die Musik von Rammstein mag – und mich noch lange Zeit auf meinen Reisen begleiten oder zum Reisen anregen wird.
